Jeffrey Eugenides: Der Spatz meiner Herrin ist tot
Jeffrey Eugenides las ein Jahr lang die schönsten Liebes
geschichten der Weltliteratur.
In „Der Spatz meiner Herrin ist tot“ hat er seine persön
liche Auswahl der bemerkenswertesten Erzählungen über die Liebe zusammengestellt.
Jede Erzählung, die ihm Schriftsteller, Studenten, Dinnergäste oder Barkeeper als ihre persönliche Lieblings-Liebesgeschichte ans Herz legten, hat der Bestsellerautor Jeffrey Eugenides gelesen. Auf der Suche nach den „großen Liebesgeschichten der Weltliteratur“ schien ihm diese Methode zwar „maximal chaotisch“, dafür aber durchaus „gesellig“, erklärt Eugenides im Vorwort seiner Anthologie. Dort begründet er auch seine kuriose Titelwahl. Letztlich, so der Pulitzer-Preisträger in einem Interview, wählte er die Texte nach denselben Kriterien aus, wie Menschen ihren Lebenspartner: nach Schönheit, Intelligenz, Humor und dem gewissen, nicht zu beschreibenden, Etwas.
Große Liebesgeschichten müssen auch von der großen Liebe handeln, vermutet man vorerst. Aber die Liebe hat viele Gesichter und eine Erzählung über die Liebe lebt von komplexeren Zutaten als innigen Worten und zärtlichen Blicken: „Es ist ihre Vergänglichkeit, die der Liebe im Leben ihre tiefe Bedeutung gibt“, so Eugenides, „Wäre sie endlos, gäbe es sie vom Fass, sie würde uns nicht so berühren, wie sie es tut.“ Der Leser kann sich auf Tragisches, Trostloses, Skurriles, aber auch Ergreifendes gefasst machen. Es sind keine „flauschigen“ Geschichten, die Eugenides aus 120 Jahren Literaturgeschichte auserwählt hat.
Hinter dem harmlosen Titel der ersten Erzählung, Anton Tschechows „Die Dame mit dem Hündchen“, verbirgt sich eine beeindruckende Geschichte über die Durchsetzungskraft einer Liebe, die als Affäre begann. Der Klassiker endet, laut Eugenides, mit einer der „rätselhaftesten Schlussszenen der Literaturgeschichte“. Der irische Schriftsteller William Trevor wurde im Feuilleton häufig mit Tschechow verglichen. Womöglich, weil seine Worte ebenso traurig-nüchtern und wunderlich zugleich wirken wie Tschechows Prosa. Trevors Beitrag „Liebende ihrer Zeit“ erzählt von einer geheimen Beziehung – und der unfassbaren Reaktion der betrogenen Ehefrau. „Die Toten“ von James Joyce, einem der wichtigsten Wegbereiter der literarischen Moderne, ist eine Novelle aus seinem weltbekannten Band „Dubliner“. Der junge Protagonist erfährt darin von der unausgelebten Jugendliebe seiner Frau, deren Liebhaber früh verstarb. Hier offenbart sich die Fragilität und Vergänglichkeit, die jeder noch so langen Ehe innewohnt.
Doch auch Erzählungen erstklassiger Gegenwartsautoren findet man unter den neunzehn Kurzgeschichten aus aller Welt. Harold Brodkeys erotisch-skurrile Erzählung „Unschuld“ ist der Bericht eines Mannes, der seine Freundin durch einen, wie Eugenides es formuliert, „virtuosen und ungemein verkopften Akt von Cunnilingus“ an die Grenzen des eigenen Selbst und letztlich zur vollkommenen Ekstase bringt. Aus dem grandiosen Debütroman von David Bezmozgis, der 2005 alle Kritiker begeisterte, entnahm Eugenides ein vielsagendes Kapitel über die ersten erotischen Gehversuche eines Sechzehnjährigen. Die bitter-süße Geschichte der US-amerikanischen Schriftstellerin Lorrie Moore, „Eine andere Frau“, erzählt mit intelligentem Witz aus der Sicht einer Geliebten von der persönlichen Hölle der ewigen Nummer Zwei.
Bedauerlicherweise war Eugenides aber auch gezwungen, auf einige herausragende Geschichten zu verzichten, da er die Druckrechte nicht erhielt. Das betrifft auch die deutsche Ausgabe, die leider sieben wunderschöne Texte (beispielsweise Milan Kunderas raffinierte Erzählung „Fingierter Autostop“) aus der Originalausgabe vermissen lässt.
Beide Ausgaben schließen jedoch mit einer unglaublich berührenden Erzählung der Kanadierin Alice Munro, einer virtuosen Autorin subtiler Kurzgeschichten. In „Der Bär klettert über den Berg“ muss ein Mann mit ansehen, wie seine demente Ehefrau eine Liebesbeziehung im Altersheim beginnt. Er selbst ging vor dreißig Jahren unzählige Male fremd. Am Ende der Geschichte versucht er in einem ungewöhnlichen, erschütternd selbstlosen Akt der Liebe, seine Schuld zu sühnen.
Jeffrey Eugenides (Hrsg.): Der Spatz meiner Herrin ist tot, Rowohlt, 576 Seiten, 15 Euro