Die Sehnsucht nach einem „großen Berlin-Roman“
Wladimir Kaminer: Russendisko
Wladimir Kaminer lud zur „Russendisko“, und die Medien waren begeistert. Ein Russe schreibt auf Deutsch über Russen in Deutschland! Zum Wegschmeißen lustig? Nein! Leider nur banal, klischeebeladen, schrecklich schlecht geschrieben und zum Gähnen langweilig.
Die Sehnsucht nach einem „großen Berlin-Roman“ muss, warum auch immer, zu Beginn des neuen Jahrtausends unter den Feuilletonisten der Republik geradezu epidemische Ausmaße angenommen haben. Wie anders wäre sonst zu erklären, dass sich so viele Rezensenten mit den mittelmäßigen Glossen, die Wladimir Kaminer in „Russendisko“ en gros feilbot, als Surrogat für den begehrten literarischen Stoff zufrieden gaben?
Blickt man nach gut zehn Jahren zurück auf die in der „Süddeutschen Zeitung“ als „Glücksfall“ gepriesenen „Mini-Romane“, entpuppen sich diese als zwar leidlich amüsantes, aber auch reichlich banales Geschwafel. Am Stamm- oder Kaffeetisch mag man über die Anekdoten aus Russenpuff und Deutschunterricht schmunzeln. Im Fernsehen fände zwischen Kaya Yanar und Cindy aus Marzahn sicher auch Kaminer einen angemessenen Sendeplatz, um mit süffisantem Lächeln seine soziotopischen Beobachtungen und Klischees auszubreiten. Aber dass diese plumpen Kulturgags einst zum literarischen Hoffnungsschimmer erhoben wurden, lässt sich bestenfalls noch als journalistischer Verzweiflungsakt erklären.
„Die Frau am Tresen heißt Lisa. Sie kommt aus England, wie auch ihr Freund, der als Croupier am Pokertisch arbeitet. Die Angestellten der drei großen Berliner Kasinos dürfen in Berlin nicht spielen. Wenn sie von der Verwaltung erwischt werden, sind sie ihren Job los. Lisa erzählte mir, wie schwer es ist, den ganzen Tag zuzusehen, wie andere spielen, und selbst nicht mitmachen zu dürfen. So muss sie immer wieder der Versuchung widerstehen. Das ist sehr anstrengend.“ Würde ein Schüler in der zehnten Klasse einen solchen Aufsatz abliefern, müsste die Lehrerin eigentlich mit rotem Stift „Stil“ darunter schreiben. Helge Schneider formuliert so ähnlich: Hauptsatz an Hauptsatz gereiht, gerne in braver Subjekt-Prädikat-Objekt-Stellung und mit überschaubarem Wortschatz. Schneider allerdings treibt das programmatisch auf die Spitze, schreibt absichtlich schlecht. Bei Kaminer klingt das mitunter ganz gleich. Leider ungewollt.
In der – nennen wir es Kurzgeschichte – „Beziehungskiste Berlin“ (allein der Titel dürfte den Berlinstory-Junkies einen wohligen Schauer über den Rücken gejagt haben) erzählt Kaminer von einem Mädchen, das ihren ersten Freund in der Schule kennen lernte, einen „cleveren Burschen“. Der Junge schenkte ihr „einfach ein Handy, über das er sie dann mit heißen E-Mails bombardierte.“ Auf der nächsten Seite, aber schon in einer anderen Erzählung, „Die russische Braut“, geht das Bombardement munter weiter. „Ein Bekannter von mir, der als BVG-Angestellter anscheinend nicht genug verdiente, um seine russische Geliebte heiraten zu dürfen“, heißt es da, „schrieb Dutzende von Briefen an Bundeskanzler Schröder und bombardierte außerdem das Auswärtige Amt mit Beschwerden.“
Nun ist schlecht geschrieben ja noch nicht unbedingt schlecht erzählt. Wie geht die Geschichte mit den Beschwerdebomben denn nun aber weiter? „Es war ein harter Kampf“, resümiert Kaminer. „Aber es hat sich gelohnt: Jetzt hat der Mann eine Braut und eine Gehaltserhöhung dazu.“ Am Stamm- oder Kaffeetisch könnte man nun wenigstens empört nachhaken: Wie bitte, das soll es gewesen sein? Fehlt da nicht etwas Entscheidendes zwischen Problem und Pointe, nämlich, wie es dazu kam, die eigentliche Geschichte, der Witz? Beim Lesen bleibt einem nichts anderes übrig, als sich dem nächsten stil- und inhaltsleeren „Mini-Roman“ zuzuwenden oder doch schlicht das Büchlein zuzuklappen und stattdessen lieber wieder „Berlin Alexanderplatz“ aus dem Regal zu kramen.
Wladimir Kaminer: Russendisko, Goldmann Manhattan, 192 Seiten, 7,90 Euro