Wolfgang Weisgram: Im Inneren der Haut
Wolfgang Weisgrams Roman über Österreichs Fußalllegende Matthias Sindelar ging 2006 in der Flut der WM-Bücher unter. Dabei ist „Im Inneren der Haut“ gar keine Fußballerbiografie, sondern zauberhafte Literatur: wienerisch lässig und wunderbar poetisch.
Was wirklich in jener Januarnacht 1939 in der Annagasse im Wiener Stadtteil Favoriten geschah, ist bis heute unklar. Noch immer ranken sich um den Tod der 1903 geborenen österreichischen Fußballlegende Matthias Sindelar zahlreiche Gerüchte. Offiziell erlag Sindelar im Bett an der Seite seiner Geliebten einer Kohlenmonoxidvergiftung, die durch ein Loch im Kamin verursacht worden war. Spekuliert aber wurde über Suizid aus Furcht vor den Nazis, weil Sindelars Freundin jüdischer Herkunft war, oder aus Angst vor Zuhältern, bei denen er angeblich Spielschulden hatte. In seinem berühmten Gedicht „Auf den Tod eines Fußballspielers“ greift der jüdische Schriftsteller Friedrich Torberg die Freitodtheorie auf: „Er war gewohnt zu kombinieren, / und kombinierte manchen Tag. / Sein Überblick ließ ihn erspüren, / dass seine Chance im Gashahn lag. // Das Tor, durch das er dann geschritten, / lag stumm und dunkel ganz und gar. / Er war ein Kind aus Favoriten / und hieß Matthias Sindelar.“ Doch auch über Mord wurde gemunkelt, über eine Liebestragödie und politische Motive.
Verfolgter oder Profiteur?
Das alles aber interessiert Weisgram in seinem biografischen Roman nur am Rande. Auch der einzigartige Fußballspieler, der Sindelar zweifellos war, bildet für ihn nur den Ausgangspunkt, um in dessen Haut zu schlüpfen und sich zu fragen, was für ein Mensch der zweifache Gewinner des Mitropapokals (Vorläufer der Champions League) gewesen sein mochte. Und das ohne jene historische Überhöhung, die auch im Gedicht Torbergs zum Ausdruck kommt, das Weisgram „Im Inneren der Haut“ voranstellt. Denn Sindelar war, was der österreichische Journalist Peter Menasse erst vor wenigen Jahren nachwies, als Käufer eines „arisierten“ Kaffeehauses auch ein Profiteur des Naziregimes.
Nachdem Weisgram die komplexen historischen Koordinaten einmal angelegt hat, versucht er jedoch nicht, Sindelar ein für allemal darin festzuschreiben. Stattdessen verwandelt er den „Papierenen“, wie Sindelar aufgrund seiner körperlosen, geschmeidigen Spielweise genannt wurde, in eine Romanfigur. Den schlichten, schüchternen Helden einer kleinen Welt aus Papier, die flüchtig bleibt, wie Sindelar einst auf dem Platz: „’Ja’ – das ist überhaupt ein Lieblingswort von ihm, kaum etwas, das er damit nicht beantworten könnte, denn Sindelar kann in ein ‚Ja’ alle möglichen Befindlichkeiten verpacken, vom strammen ‚Jjja’ bis zum sehr abwägenden ‚Nnnja’ reicht da die Spannweite, in der eine ganze Welt Platz finden kann, auch wenn schon dazugesagt werden muss, dass es sich dabei um die des Matthias Sindelar handelt, die zugegebenermaßen nicht sehr groß und nicht sehr vielfältig ist.“ Natürlich spekuliert auch Weisgram, natürlich nutzt auch er Sindelar als Projektionsfläche, schreibt auch er ihm am Ende seine eigenen Vorstellungen auf den papierenen Leib. Doch hat Weisgrams Sindelar mit dem Wikipedia-Sindelar wenig gemein, so sehr er ihm bisweilen auch ähneln mag. Weisgrams Sindelar setzt sich nicht aus Daten und Fakten zusammen, sondern er geistert durch den wabernden Raum dazwischen.
Roman oder Sportlerbiografie?
Dass Weisgrams poetischer Roman meistens trotzdem als Sportlerbiografie missverstanden wurde, lässt sich leicht nachvollziehen. Weisgram arbeitete als Sportredakteur bei der Wiener Tageszeitung „Standard“, sein Buch erschien in einem österreichischen Sportverlag neben Titeln wie „Golden Girls: Österreichs Ski-Olympiasiegerinnen“, und es erschien 2006 im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland.
Doch anstatt auf der Welle des allgemeinen Hypes nach oben gespült zu werden, ging „Im Inneren der Haut“ in der Flut der WM-Veröffentlichungen unter. Jetzt wird es als Paperback noch einmal neu aufgelegt. Und mit ihm vermutlich auch der Irrglaube, es handle sich um ein Fußballbuch. Genauso gut aber könnte man „Moby Dick“ als Kompendium des Walfangs bezeichnen. In einer wunderbar dahinschlendernden Sprache, mit viel Gespür für die menschliche Psyche und allerhand Wiener Schmäh erzählt Weisgram eine traurig-schöne Geschichte über den Fußball und das Leben.
Wolfgang Weisgram: Im Inneren der Haut. Egoth Verlag, 440 Seiten, 14,90 Euro