Kein zweigeteiltes Herz
Pünktlich zu ihrem 70. Geburtstag schenkt uns die chilenische Schriftstellerin Isabel Allende einen neuen Roman. Im BÜCHER-Interview erzählt sie, warum „Mayas Tagebuch“ von der Hölle der Drogenabhängigkeit handelt und weshalb sie feministisch und feminin zugleich sein möchte.
Ihr aktueller Roman spielt, abgesehen von einigen Rückblicken, im Jahr 2009. Darin beschreibt die 19-jährige Maya schonungslos, wie sie in Las Vegas durch die Hölle der Drogenabhängigkeit und Prostitution geht. In dem autobiografischen Roman „Das Siegel der Tage“ erwähnen Sie die Drogenabhängigkeit Ihrer Stieftochter Jennifer. War sie es, die Sie dazu inspiriert hat, den schmerzlichen Weg in die Abhängigkeit von Rauschgiften wie Crack und Heroin zu beschreiben?
Die Inspiration für diesen Roman kam nicht von Jennifer, sondern von meinen Enkelkindern, die sich zu dem Zeitpunkt mitten in der Pubertät befanden und allen Gefahren der Welt ausgesetzt waren: Drogen, Alkohol, Gewalt, Kriminalität, schlechte Freundschaften und so fort. Glücklicherweise haben meine Enkelkinder die Teenagerzeit ohne Schaden überstanden. Für die Passagen über Drogenkonsum und den Horror, den Maya auf der Straße durchlebt, musste ich nicht viel recherchieren, weil alle drei Kinder meines Ehemannes Willie Drogenprobleme hatten, insbesondere Jennifer, die mit 28 Jahren an einer Überdosis starb. Ich musste nur herausfinden, welche Drogen aktuell unter den Jugendlichen die geläufigsten sind.
Sie haben einmal gesagt, wenn Sie mit einem neuen Roman beginnen – immer am 8. Januar eines Jahres – haben Sie kein festgelegtes Skript vor Augen, sondern die Romanfiguren beginnen ein Eigenleben zu führen, sie erzählen Ihnen sozusagen ihre Geschichte und Sie schreiben sie auf. War das bei Maya ähnlich?
Ja, ich wusste, der Roman würde die Geschichte einer jungen Amerikanerin sein und die Hälfte davon spielt in Chile, aber ich hatte kein Skript. Sobald ich Mayas Stimme gewahr wurde und sie für mich Gestalt annahm, ergab sich der Rest Schritt für Schritt von selbst, Tag für Tag, von einem Wort zum nächsten. Die Episoden über Chile fielen mir leicht, denn in meinem eigenen Land kenne ich mich gut aus.
Maya erzählt ihre Erlebnisse rückblickend, nachdem sie auf die chilenische Insel Chiloé geflüchtet ist. Der ruhige, ritualisierte Alltag auf Chiloé und die Genügsamkeit der Inselbewohner stehen im starken Kontrast zu der hektischen Realität in Las Vegas. Glauben Sie, dem US-amerikanischen Lebensstil fehlt diese archaische, geruhsame Dimension, wie sie in Chile zum Teil noch existiert?
Wir leben inmitten von Lärm und ständiger Aktivität. Die jungen Leute sind permanent digital vernetzt, werden dauernd mit Informationen, Anregungen und Unterhaltung berieselt. Sie können kaum allein sein oder Stille aushalten, weil sie sich gleich verloren fühlen. Unter diesen Bedingungen ist innere Einkehr sehr schwierig. Einige Erwachsene suchen Frieden in der Meditation, in der Natur oder in der Kunst, aber die Jungen spüren dieses Bedürfnis nicht. In Mayas Fall schwächen zudem Drogen das Denkvermögen und stumpfen ab. Der Kontrast zwischen der künstlichen Welt von Las Vegas und der ländlichen Kultur von Chiloé half mir, dieses Problem zu verdeutlichen.
Maya bemerkt, dass sie sich auf Chiloé auch ohne iPod, Facebook und E-Mails nicht langweilt, sie lauscht den natürlichen Geräuschen der Insel, liebt die Ruhe und ist fasziniert von der magischen Seite der chilotischen Kultur, den Hexen und Heilkräutern.
Haben Sie selbst auf Chiloé gelebt und ähnlich empfunden?
Ich war mehrmals auf Chiloé, habe dort sehr liebe Freunde, und außerdem habe ich extra eine geführte Reise gemacht, um den ganzen Archipel kennenzulernen und um die Insel zu finden, die ich für meine Geschichte suchte. Chiloé ist tatsächlich ein magischer Ort, mit wunderschöner Natur und einem kühlen, regnerischen Klima, das die Menschen zwingt, mehrere Monate im Jahr in ihren Häusern zu bleiben, rund um ihre Holzöfen in Gespräche vertieft und in ihre sehr interessanten, alten Mythen. Dennoch gibt es dort auch schlimme gesellschaftliche Probleme wie Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, häusliche Gewalt, Inzest. Die erwähne ich in meinem Buch, um nicht den Eindruck von einem reinen Paradies zu erwecken.
In Ihren Romanen gibt es immer wieder Frauen mit einer guten Intuition, mit hellseherischen Fähigkeiten, Interesse an Magie, Heilkräutern, Traumdeutung ...
In Chile, vor allem in den ländlichen Regionen, findet man diese Fähigkeiten häufig. Ich habe mehrere Freundinnen, die sich selbst als Hexen bezeichnen. Die ganze New-Age Kultur ist in Chile stark verhaftet und immer noch einflussreich. Alternative Medizin, und dazu gehört ja die Kenntnis von Heilpflanzen, ist in Chile sehr gefragt. In Kalifornien, wo ich lebe, im Übrigen auch.
Sie haben einmal gesagt, vor der Geburt Ihrer Enkelkinder haben Sie bereits von ihnen geträumt. Wie ist das zu verstehen?
Das ist nichts Ungewöhnliches, viele schwangere Frauen träumen von ihrem Ungeborenen, sprechen mit ihm und sehen im Traum, mit welchem Geschlecht es zur Welt kommen wird. Bei meinen beiden Kindern, Paula und Nicolás, wusste ich vorher genau, wie sie sein würden. Auch von meinen Enkelkindern habe ich geträumt und wusste so vor ihrer Geburt, ob sie Jungen oder Mädchen sein werden.
Schreiben ist eine Tätigkeit, die viel Ruhe und Muße verlangt. Was gibt Ihnen Kraft zum Schreiben, wie verschaffen Sie sich die nötige Ruhe?
Ich schließe mich in einem kleinen Häuschen im hinteren Winkel unseres Gartens ein, wo es weder E-Mails, noch Fax oder Telefon gibt, und wo mich niemand stört. Doch diesen Luxus habe ich noch nicht so lang. Vorher schrieb ich, wie und wo ich konnte. „Das Geisterhaus“ schrieb ich immer nachts am Küchentisch meines Appartements in Caracas, mein zweiter Roman („Von Liebe und Schatten“) entstand in einer Kammer, ebenso nachts. Bei meinem dritten Roman „Eva Luna“ hatte ich es schon bequemer, mit Computer und einem eigenen Zimmer. Doch dann emigrierte ich nach Kalifornien, zu Willie, dem Mann, in den ich mich verliebt hatte. Da hatte ich dann wieder keine Privatsphäre, ich schrieb die Geschichten der Eva Luna in einer Cafeteria, in Willies Auto oder in einem Park, während ich auf ihn wartete. Erst seit dem „Unendlichen Plan“ verfüge ich wieder über ein eigenes Zimmer.
Noch einmal zu Maya aus Ihrem jüngsten Buch: Sie durchlebt eine lange Leidensgeschichte mit körperlichen Schmerzen und Trauer. Sie betäubt sich mit Rauschmitteln und stellt sich anfangs nicht ihren Gefühlen. Es geht in dem Roman bei mehreren der Figuren darum, dass sie lernen müssen, das Vergangene nicht zu verdrängen, sich ihrem Schmerz zu stellen: Sei es nach Foltererlebnissen zur Zeit der Militärdiktatur, aufgrund einer Krankheit oder nach dem Verlust eines geliebten Menschen. Ist das eine für Sie wichtige Botschaft des Romans?
Ja, so ist es. Wenn wir uns dem Schmerz öffnen, ohne Widerstand zu leisten, überflutet er uns und scheint uns erst zu zerstören, dann dringt er durch uns hindurch, wir sind am Boden, aber gereinigt.
Im Jahr 2010 erhielten Sie den chilenischen Nationalpreis für Literatur. Sie mussten 1974, nach dem Militärputsch und dem Mord an dem Cousin Ihres Vaters, dem damaligen chilenischen Präsidenten Salvador Allende, ins Exil gehen. Wie war es für Sie, diesen Preis zu bekommen?
Ich habe mehr als 50 Preise in verschiedenen Ländern der Welt erhalten, aber der chilenische Nationalpreis ist für mich der wichtigste, denn er bedeutet Anerkennung aus meinem eigenen Land. Meine Bücher sind in Chile sehr beliebt, aber einige Kritiker und Kollegen behaupten, Bestseller könnten keine gute Literatur sein. Dieser Literaturpreis widerspricht dem.
Kritiker behaupten zuweilen, Ihre Literatur sei seicht oder trivial. Glauben Sie, das geschieht aus Neid und Missgunst?
Aufrichtige Kritik stört mich nicht, genauso wenig brüste ich mich mit dem Guten, was über mich geschrieben oder gesagt wird. Ich schreibe, so gut ich kann, recherchiere gewissenhaft und nehme meine Arbeit ernst. Ich bin den Millionen Lesern, die meine Bücher mögen, sehr dankbar, was kann man mehr erwarten?
Sie leben seit 25 Jahren in den USA, haben einen US-amerikanischen Pass, Ihre Enkel sprechen kaum Spanisch. Fühlen Sie sich noch als Chilenin?
Ich habe auch noch den chilenischen Pass. Ich glaube, ich lebe mit einem Bein in Chile und mit dem anderen in Kalifornien, aber ich habe kein zweigeteiltes Herz, es ist groß genug für zwei Heimatländer.
In den 23 Jahren seit dem Ende der Militärdiktatur wurde Chile kontinuierlich demokratisch und wurde zum Teil sogar wieder von sozialistischen Präsidenten regiert, wie Ricardo Lagos und zuletzt Michelle Bachelet. Seit der konservative Sebastián Piñera an der Macht ist, wird im Land ein neuer Rechtsruck spürbar. Erfüllt Sie das mit Sorge?
Nein, Chile ist ein progressives Land, es ist politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich stabil. Die Menschen haben sich für Piñera entschieden, es ist rechtmäßig, wenn er und seine koalierenden Parteien nun an der Regierung sind. Ich denke, sie haben gute Absichten, aber sie kennen nicht die Nöte eines Großteils der Bevölkerung. Chiles größtes Problem ist der Mangel an Chancengleichheit, die ungerechte Gehälterverteilung. Die, die jetzt an der Regierung sind, gehören der privilegierten Klasse an.
Sympathisieren Sie mit der Studentenführerin Camila Vallejo, die mittlerweile zum beliebten Idol der linken Protestszene in Chile geworden ist?
Ich glaube, es gibt niemanden, der nicht Camila Vallejo bewundert, selbst nicht unter ihren ideologischen Feinden. Sie ist intelligent, drückt sich klar aus, ist politisch und sozial sehr engagiert, zudem ist sie schön und charismatisch. Sie hat in der chilenischen Politik gute Zukunftsaussichten.
Die Heldinnen Ihrer Romane sind oft starke Kämpferinnen, die ihr Leben mit Intuition und einem ausgeprägten Sinn für Pragmatik meistern, wie etwa die Mulattin Zarité aus „Die Insel unter dem Meer“ oder Inés Suárez aus „Inés meines Herzens“. Bezeichnen Sie sich als feministische Autorin?
Meine Romane spiegeln meine Lebenserfahrung wider, meine eigenen Prinzipien und Vorstellungen. Ich bin seit meiner Teenagerzeit Feministin und habe eine Stiftung gegründet, die Frauen und Mädchen auf der ganzen Welt hilft, aber beim Schreiben will ich keine Botschaften vermitteln. Ich bin eher eine feminine Autorin, keine Feministin.
Nun ist Feminismus heute ja anders zu verstehen als noch in den Siebzigerjahren. Emanzipiert sein schließt nicht mehr aus, Weiblichkeit zu betonen. Das dürfte Ihnen als Autorin von den Sinnen und der weiblichen Erotik frönenden Büchern wie „Aphrodite“ und „Ein diskretes Wunder“ sehr entgegen kommen?
Ich gehöre jener Generation an, die in den Siebzigerjahren für die Frauenbefreiung gekämpft hat, aber für mich war das nie ein Kampf gegen die Männer. Ich kann weiblich und sinnlich sein und dabei sehr gut für die Rechte der Frauen kämpfen. Ich bin gern feministisch und feminin zugleich. Ich glaube, jede kluge Frau ist feministisch, entweder indem sie für ihre eigenen Rechte kämpft oder indem sie sich für die Rechte ihrer benachteiligten Schwestern in anderen Gegenden dieser Welt einsetzt, die noch als Minderjährige zwangsverheiratet werden, zu Arbeit und Prostitution gezwungen werden, Vergewaltigung, Prügel und ungestraften Mordversuchen ausgesetzt sind.
Frau Allende, Sie feiern am 2. August 2012 Ihren 70. Geburtstag, was wünschen Sie sich?
Für mich persönlich, dass es mir nicht an Liebe und Gesundheit mangelt. Für die Welt wünsche ich mir, dass das Patriarchat durch eine Gesellschaft ersetzt wird, in der Männer und Frauen gleichrangig herrschen können. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?
Isabel Allende: Mayas Tagebuch. Übersetzt von Svenja Becker, Suhrkamp, 447 Seiten, 24,95 Euro