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Portrait: Alva Gehrmann

Hassan Blasim beschreibt seine Flucht aus dem Irak nach Finnland

Harte Realität und wilde Fiktion

Die Flucht des irakischen Schriftstellers Hassan Blasim aus dem Irak nach Finnland dauerte vier Jahre. Eine Begegnung auf dem finnischen Literaturtreffen Lahti International Writers’ Reunion.

Es ist ungewöhnlich windig und kalt in jenen Sommertagen. Wir sitzen in einem weißen Zelt. Ich trage alle Jacken und Schals, die ich mitgenommen habe, und hülle mich zusätzlich in zwei dicke Wolldecken. Das ist ja unerträglich, denke ich. Und dann beginnt Hassan Blasim beim Lahti International Writers’ Reunion, einem Literaturtreffen im Süden Finnlands, auf dem Podium seine Geschichte zu erzählen. Der irakische Filmemacher und Schriftsteller berichtet von der Flucht aus seiner Heimat. Er wurde politisch verfolgt, zeitweise arbeitete er unter einem Pseudonym in Kurdistan, um seine Familie nicht zu gefährden. Später machte er sich von Bagdad aus auf den Weg nach Europa – vier Jahre brauchte es, bis er unter anderem über die Türkei und Bulgarien in Finnland ankam. „Die Reise hatte komische und grausame Elemente“, sagt Blasim. Er ging über Berge, durchquerte Steppen, dunkle Wälder und die Kälte. „Ich wurde verhaftet und von Grenzsoldaten verprügelt. Ich lebte wie ein Vagabund auf der Straße, schlief in Parks und fischte Essen aus Mülleimern“, fährt er fort.

Mich beschämt plötzlich das Unwohlsein, das ich wegen ein bisschen Kälte empfinde. Erste-Welt-Probleme. Seit 2004 lebt Blasim in eben dieser Ersten Welt. Für ihn ist es wichtig, auf Literaturtreffen wie diesem seine Stimme zu erheben. „Ich sehe, wie Flüchtlinge ertrinken, wenn sie ins demokratische Europa flüchten – genau in jene EU, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.“ Der 42-jährige Schriftsteller, der hier vor rund 60 Kollegen und Zuschauern spricht, ist so anders als der Hassan Blasim, mit dem ich die Tage zuvor während des Literaturtreffens gemeinsam über die Liebe, das Leben und die Literatur sprach. Am Abend feierten wir mit Kollegen und nippten an unserem Dosenbier. Hassan lachte viel, war fröhlich und offen. Obwohl er sich selbst als eher schüchtern bezeichnet. Nun ist er sehr ernst. Sicher ahnte ich, dass ein Autor aus dem Irak, der im Exil lebt, viel erlebt haben muss. Nach seiner Präsentation sehe ich ihn mit anderen Augen, und besorge mir sein Buch: „Der Verrückte vom Freiheitsplatz und andere Geschichten über den Irak“ versammelt Kurzgeschichten aus zwei Büchern, für den zweiten Teil erhielt er 2014 den Independent Foreign Fiction Prize. Blasim gilt als eine der wichtigsten Stimmen der irakischen Gegenwartsliteratur.

Ihm ist es wichtig zu betonen, dass es seit 1000 Jahren Literatur und Kunst aus seiner Heimat gebe. Doch alles, was die Menschen heute sähen, seien die Golfkriege, die Diktatur unter Saddam Hussein und die vielen Morde. Seine Figuren in den Geschichten erleben ähnlich Unfassbares: Flüchtlinge mutieren in einem Lkw nach Berlin zu monströsen Fabelwesen. Ein Ambulanzfahrer fährt mit sechs abgeschnittenen Köpfen durch Bagdad und wird später gezwungen, Terrorvideos für verschiedene radikale Gruppen aufzunehmen. Und in der Geschichte „Die Leichenschau“ erklärt ein Killer seinem Schüler: „Jede Leiche, die du richtest, ist ein Kunstwerk, an das du letzte Hand anlegst, damit es in den Trümmern dieses Landes strahle wie ein wertvolles Juwel.“ Blasims Sprache ist mal sanft, mal beklemmend und manches wird ins Groteske gezogen. Ihm schmeicheln die Vergleiche einiger Kritiker mit Kafka, doch der Iraker will seine eigene Stimme finden. Worte waren für ihn schon seit der Jugend sein Rettungsring. „Das Einzige, was ich auch heute sehe, wenn ich in den Spiegel schaue, ist ein Kind, das Wortspiele liebt.“

Immer wieder wird Blasim nach der fragilen Linie zwischen Fiktion und Realität gefragt. „Manchmal behaupte ich, es sei nur eine Satire und dass diese für Hoffnung stehe“, sagt Blasim. „Ein anderes Mal sage ich, es seien nur Worte und dass die Realität noch viel härter ist als die wildeste Fiktion.“ Unabhängig davon, was eine Fabel ist oder welche Dinge ihm real passiert sein mögen, ich sehe den Irak und das Schicksal der Flüchtlinge nun mit anderen Augen.

Hassan Blasim: Der Verrückte vom Freiheitsplatz und andere Geschichten über den Irak
Übersetzt von Hartmut Fähndrich, Kunstmann, 256 Seiten, 19,95 Euro, als E-Book erhältlich

 

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