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Portrait: Elisabeth Dietz (ed) | Fotos: Jean Malek

Margaret Atwoods „MaddAddam“-Trilogie

Nach dem großen Sterben

In ihrer „MaddAddam“-Trilogie lässt Margaret Atwood die Zivilisation, wie wir sie kennen, untergehen und entwirft eine fluoreszierende Zukunft. Bücher sprach mit der kanadischen Schriftstellerin über Algen und Kaninchen, die Gefahren des geschriebenen Wortes und die Chancen sozialer Netzwerke.

Ein grünlich glühendes Kaninchen huscht vorbei, auf der Flucht vor einer Luxkatze. Ein Wakunk versteckt sich zwischen den Rippen eines Toten. In der Ferne heult ein Hunolf. Besser, ihm nicht zu nahe zu kommen, das Schwanzwedeln sieht nur freundlich aus, bis er einem die Zähne in die Kehle schlägt. Große graurosa Schweine schnüffeln nach Schnecken und Mangos. Ihr Blick wirkt seltsam intelligent. In ihren Köpfen wächst menschliches Neokortex-Gewebe, die Körper sind prall von menschlichen Nieren und Lebern, die niemand mehr ernten konnte. Ungefähr hier, ungefähr jetzt spielt Margaret Atwoods „MaddAddam“-Trilogie. Zeit, mit hohler Stimme zu rufen: „Willkommen … in der Zukunft!“

„In einer Zukunft“, sagt Margaret Atwood. „Es ist nur eine mögliche Zukunft.“ Wir sitzen im Café der British Library in London. Die Menschen um uns herum sind zahlreich und lebendig. Die Autorin von „Der blinde Mörder“, „Der Report der Magd“ und zwölf anderen Romanen sowie Sachbüchern, Gedichtbänden, Erzählungen, Essays und Kritiken lehnt mit dem Ellbogen auf dem Tisch und rührt in ihrem Kaffee. Ihre Stimme klingt tief und monoton, sie spricht in einfachen Worten, weil sie komplizierte nicht nötig hat. „Meine Ausgangsthese ist: Die Menschheit hat eine Büchse der Pandora geöffnet – die Fähigkeit, neue Lebensformen zu erschaffen.“

Essen und gegessen werden

In der Welt, in der die „MaddAddam“-Protagonisten aufwachsen, ist die Gentechnik ein wichtiger Wirtschaftszweig. Organschweine dienen als Ersatzteillager, ZinnenSpiegen produzieren extrem reißfestes Garn für kugelsichere Westen. „Alle Lebewesen in ,MaddAddam‘ sind theoretisch möglich“, erklärt die Autorin. Ihr Vater war Entomologe, und beinahe hätte sie Biologie studiert wie ihr Bruder. Ihr Freundeskreis ist reich an Experten. Mäuse, Katzen, Kaninchen und Schafe, die dank Quallen-DNA im Dunkeln leuchten, sind längst Realität. „Und an den ChickieNobs wird gearbeitet.“ ChickieNobs sind kopflose Huhn-Objekte, denen nur Keulen, Flügel und Brüste wachsen. „Sie haben kein Gehirn, also werden sie nicht traurig.“

„Warum fühle ich mich von der Vorstellung abgestoßen, obwohl industrielle Hühnermast viel abstoßender ist?“, frage ich.
„Weil wir noch immer an der Vorstellung von Old MacDonalds’s Farm hängen. Wir haben nur intellektuell begriffen, was industrielle Tierhaltung ist. Natürlich könnten Sie Ihr Huhn vom Bio-Bauernhof holen. Dann würden Sie immer noch ein Tier essen, aber das ist okay. Es würde Sie auch essen.“ Wenn sie etwas Dunkles sagt, lächelt sie. „Wir hatten mal Hühner. Sie mögen Hotdogs.“ Atwood und ihr Partner Graeme Gibson sind Mitglieder der kanadischen Grünen. „Die meisten Leute, die ,die Umwelt schützen‘ möchten, begreifen sich selbst nicht als Teil dieser Umwelt. Sie denken dabei an kuschelige Kaninchen. Ich denke an Algen. Die sind nicht niedlich, aber wenn sie sterben, sterben wir.“

Bioterroristen und Gottesgärtner

In der „MaddAddam“-Trilogie befindet sich nicht nur das Ökosystem in einem gefährlichen Ungleichgewicht. Die Regierung ist machtlos gegen die Großkonzerne, private Sicherheitsfirmen ersetzen die Polizei. Jenseits der streng bewachten Firmenkomplexe und ummauerten Ghettos der Vermögenden lebt eine große, chaotische Unterschicht. Die Bioterroristen der Madd­Addam-Gruppe setzen teerfressende Bakterien auf Autobahnen aus. Die Gottesgärtner bauen Gemüse auf Slum-Dächern an und verehren Dian Fossey und Al Gore als Heilige. Und dann ist da Crake, ein junger Wissenschaftler, der eine neue Menschheit konstruiert.
Die Craker sind darauf ausgelegt, keine Besitztümer zu akkumulieren, weder zu führen noch zu folgen, keine Kriege anzufangen. Sie haben UV-resistente Haut, körpereigenes Insektenschutzmittel und ein so geringes Aggressionspotenzial, dass sie nicht einmal Witze machen. Sie verdauen unbehandeltes Pflanzenmaterial, indem sie wie Kaninchen ihren eigenen Kot essen. Wenn sich jemand verletzt, beschnurren sie ihn. „Meine Biologen fanden das unrealistisch. Aber die Wissenschaft hat mich bestätigt. Katzen schnurren, um sich zu beruhigen, es senkt den Blutdruck. Mittlerweile wird empfohlen, sich bei Migräne eine schnurrende Katze auf den Kopf zu setzen.“ Atwood grinst. „Sie verraten aber nicht, wie man sie dazu bringt, dort zu bleiben.“

Die Craker paaren sich saisonal. Wenn sich die Geschlechtsorgane einer Frau blau färben, pflücken die Männer Blumen. Sie singen und tanzen, indem sie ihre erigierten blauen Penisse synchron hin- und herschwingen. Die Frau wählt vier Männer aus und zieht sich mit ihnen zurück. Die Erregung der Abgewiesenen klingt sofort ab. Eifersucht ist obsolet, Liebesverzweiflung entsteht nicht mehr. Die Spanne zwischen dem Entstehen eines Bedürfnisses und seiner Erfüllung ist kürzer noch als in Huxleys „Schöne neue Welt“.

Überall Himbeermousse

Im ersten Band der Trilogie, „Oryx und Crake“, treffen wir auf Jimmy, den letzten Menschen. Eine Pandemie hat den größten Teil der Menschheit in etwas verwandelt, das aussieht wie Himbeermousse. Einzig die Craker haben überlebt. Jimmy, halbwahnsinnig vor Schmerz und Wundbrand, ist ihr Beschützer. Und, wider Willen, ihr Prophet. Im zweiten Band, „Das Jahr der Flut“, folgen wir der jungen Ren und der Gottesgärtnerin Toby durch die Plebslande und den Untergrund in eine verlassene Schönheitsfarm, hinter deren Mauern sie die Seuche überstehen. Im dritten Band führt die Autorin die beiden Handlungsstränge zusammen – durch den Hacker Zeb, der sich durch die Schichten des komplexen Plots bewegt wie über verborgene Pfade im Internet.

In „Die Geschichte von Zeb“ lebt Toby mit einigen überlebenden Gottesgärtnern und Madd­Addamiten auf einer Lichtung, die einmal ein Park war. Sie beschützen die Craker, denn durch das verfallende San Francisco streifen andere Überlebende, mehrfache Sieger im Painball, einem Schwerverbrecher-Gladiatorenkampf auf Leben und Tod, frei von Empathie und schwer bewaffnet. Die Craker stellen Fragen. Und Toby erzählt. Vor den Augen des Lesers entsteht aus den Lebensgeschichten von Crake und Zeb und Toby, aus Nachrichten und Notlügen eine Mythologie. Anders als von Crake geplant, sind die Craker durchaus zu symbolischem Denken fähig. Als eines der Kinder lernt, seinen Namen zu schreiben, erschrickt Toby. „Und was kommt danach? Vorschriften, Dogmen, Gesetze? Das Testament des Crake? […] Habe ich sie für immer verdorben?“
„Hat sie?“, frage ich die Autorin.
„Ich weiß es nicht!“ Sie seufzt. „Einer der Nachteile des Schreibens ist, dass ein Text, insbesondere ein heiliger Text, einen beschränkt.“
„Auch heilige Texte sind manipulierbar“, wende ich ein. Zebs Vater ist der oberste Priester der Church of PetrOleum, die das Streben nach Reichtum durch Ausbeutung predigt – und sich dabei auf Matthäus 16, 18 beruft.
„Aber obwohl sie verändert werden“, sagt Atwood, „glauben die Gläubigen, dass die Schriften unverändert sind.“

Twitter ist wie eine Party

1989 stellte Atwood in Berlin die Verfilmung ihres Romans „Der Report der Magd“ vor. „Die Westberliner Zuschauer stellten Fragen zu künstlerischen Entscheidungen und waren davon überzeugt, dass so etwas in Amerika nie passieren könnte.“ Sie schüttelt den Kopf. „Die Ostberliner waren nach den Vorstellungen immer sehr still. ‚Das war unser Leben‘, sagten sie. Natürlich meinten sie nicht die Uniformen und den religiösen Fundamentalismus, sondern, dass man nicht offen reden konnte.“ Die Autorin ist Mitglied des P.E.N. und eine von 562 Autoren und Autorinnen, die die Petition „Die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter“ unterschrieben haben. Gefordert wird eine internationale Konvention der digitalen Rechte. Seit Dezember haben sich für diese Forderung weltweit nur 202 124 Unterstützer gefunden. Warum so wenige? „Sobald man diese Petition unterschreibt, ist man auf jemandes Radar. Ich glaube, viele Menschen unterstützen die Sache, möchten aber die Regierung nicht im Nacken haben. Erinnern Sie sich, was nach dem Arabischen Frühling in Ägypten passiert ist? Die Demonstranten hatten sich über SMS und soziale Medien verabredet. Also konnte die Regierung alle Beteiligten identifizieren.“ Sie lächelt listig. „Eine meiner Voraussagen: Man wird wieder Briefe schreiben. Auf Papier.“
„Auch Briefe kann man öffnen.“
„Kann man. Aber dazu müsste sie jemand abfangen, mit Wasserdampf öffnen, lesen, kopieren, wieder zukleben und in die Post geben.“
„Das würde Arbeitsplätze schaffen.“
„Aber es wäre auch sehr teuer. Viel aufwendiger als eine kontinuierliche Internetüberwachung. Die wird von ein paar Programmen erledigt.“
Atwoods eigene Netz-Existenz ist recht öffentlich. Um ihren Facebook-Account kümmert sich ihr Verlag, aber Twitter hat es ihr angetan.
„Wie viel Zeit verbringen Sie auf Twitter?“
„Nicht sehr viel. Es ist, als hätte man eine eigene kleine Radiostation. Ich bin etwa zehn Minuten am Tag auf Sendung. Man könnte sagen, ich lade Gäste ein und spreche mit Anrufern.“
„Sie haben 427 000 Follower. Was machen Sie richtig?“
„Twitter ist wie eine Party. Würden Sie zu einer Party gehen, deren Gastgeber die ganze Zeit über sich selbst spricht? Würden Sie nicht. Aber wenn er Ihnen erzählt, wie großartig dieser Mensch dort drüben ist, würden Sie ihm zuhören. Twitter ist ein gutes Medium, um zu sagen ,Das ist ein gutes Buch, ich habe es wirklich genossen‘, aber ein schlechtes, um zu sagen ,Lesen Sie mein Buch!‘“
Atwood hat Alice Munro in einem Google+ Hangout interviewt, ein Ask Me Anything auf Reddit veranstaltet und zuletzt im Wechsel mit der jungen britischen Schriftstellerin Naomi Alderman einen Zombie-Roman auf wattpad veröffentlicht. „Warum“, frage ich, „sind apokalyptische Szenarien und Zombie-Geschichten wohl gerade so beliebt?“
„Vampire sind aristokratisch, Werwölfe wild. Zombies haben scheinbar nicht viel zu bieten. Aber einen Vorteil hat es, Zombie zu sein: Man lebt im Augenblick. Zombies haben keine Sorgen.“
„Und Sie?“, frage ich, während wir unsere Sachen zusammenpacken. „Was wären Sie am liebsten, Vampir, Werwolf oder Zombie?“
Margaret Atwood wiegt den Kopf hin und her. „Kann ich ein Hobbit sein?“

Margaret Atwood: Oryx und Crake. Übersetzt von Barbara Lüdemann. Berlin, 384 Seiten, 10,99 Euro, als E-Book erhältlich

Margaret Atwood: Das Jahr der Flut. Übersetzt von Monika Schmalz. Berlin, 480 Seiten, 10,99 Euro, als E-Book erhältlich

Margaret Atwood: Die Geschichte von Zeb. Übersetzt von Monika Schmalz. Berlin, 480 Seiten, 22,90 Euro, als E-Book erhältlich

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