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Reportage: Elisabeth Dietz (ed)

Kunst im Comic

Abstürzen mit Superhelden

In Bildergeschichten Geschichten von Bildern erzählen – nichts liegt näher. Trotzdem hat es eine Weile gedauert, bis die bildende Kunst im Comic Thema wurde. Im letzten Jahr ist es vielfach geschehen. Entstanden sind bemerkenswerte Bücher.

„Das frühe 20. Jahrhundert ist unser Marvel-Universum.“ Nach ihrem Comic über den Karikaturisten Olaf Gulbransson legen die norwegischen Zeichner Lars Fiske und Steffen Kverneland je eine weitere Künstlerbiografie vor. Fiske, der Minimalist, porträtiert Kurt Schwitters, Kverneland, der Maximalist, Edvard Munch. Ihr Dogma: „Der ganze Text soll nur aus authentischen Zitaten bestehen und es ist streng verboten, sie umzuschreiben oder etwas hinzuzufügen.“ Denn, so Kverneland, „was möchte man lieber lesen: die Worte August Strindbergs oder Steffens Interpretation davon? Außerdem gibt es so viel Stoff! Munch war von Autoren umgeben. Und alle schrieben sie autobiografisches Zeug, das war damals sehr hip. Auch viele seiner Bilder waren autobiografisch.“ Immer wieder verwendet er sie in oder als Panels. Er imitiert, karikiert, verfremdet. So verändert er nicht nur nach Belieben die Distanz zum Geschehen, sondern verdeutlicht auch, auf welcher Zeitebene der Leser sich gerade befindet. Den alten Munch, der auf sein Leben zurückblickt, zeigt er schwarz-weiß und realistisch. Munchs Kindheit, die von Krankheiten und dem frühen Tod von Mutter und Schwester geprägt war, malt er in düsteren Grau- und Brauntönen. Munchs wilde Jahre in Berlin, als er in Bordellen malte und sich mit August Strindberg, Dagny und Stanisław Przybyszewski, Christian Krohg, seiner Frau Oda und anderen Bohemiens die Nächte im „Schwarzen Ferkel“ um die Ohren schlug, gestaltet er farbig und karikaturistisch. Da Munch am Nachtleben oft nur als stiller Beobachter teilnahm, tritt hier sein Freund Strindberg stärker in den Vordergrund: seine Frauenfeindlichkeit, sein Verfolgungswahn. Und sein Verhältnis zu Przybyszewskis Frau Dagny: Strindberg behauptet, sie habe sich ihm an den Hals geworfen, Olof Lagercrantz kolportiert, sie habe ihn zurückgewiesen und wegen seines Bauchansatzes ausgelacht. Wo die Quellen einander widersprechen, zeigt Kverneland beide Versionen: „Wenn sie lügen, dann sind das authentische Lügen!“

Hirn, das an die Wand spritzt

Wann immer Fiske oder Kverneland etwas kommentierenmöchten, zeichnen sie den jeweils anderen in ihren Comic, kaum jemals ohne einen Flachmann. „Ich verwende Lars wie ein Mikrofon, einen Zuhörer, einen nützlichen Idioten“, erklärt Kverneland, „und er macht dasselbe mit mir.“ Beide Comics zeigen auch die Recherchereisen der Zeichner zu den Wirkungsstätten ihrer Idole. Als sie in Schwitters’ Sommerhaus auf Hertøya, einer kleinen norwegischen Insel, Überreste seines letzten Merzbaus entdecken, leuchtet die Begeisterung aus jedem Panel. Fiske zeigt Schwitters als unbeirrbaren Optimisten. „In Deutschland musste er die Fenster seines Ateliers weiß anstreichen, weil die Nazis sonst sein Werk zerstört hätten. Dann ist er geflohen – ausgerechnet nach Norwegen, wo niemand in der Lage war, seine Merzkunst zu verstehen.“ Um zu überleben, malte er unzählige konventionelle Landschaftsbilder und Porträts, die er mitunter direkt gegen ein Essen oder einen Haarschnitt eintauschte. Seine Collagen versteckte er unter dem Bett. „Aber er war fest davon überzeugt, ein Genie zu sein.“ In Briefen und Gemeindechroniken stieß Fiske auf skurrile Ereignisse. Schwitters, der auf einem Empfang mit führenden Nationalsozialisten erklärt, er könne „arisch denken, malen und spucken“, den Leiter der Organisation „Kraft durch Freude“ ein „fröhliches Mondgesicht“ nennt und schließlich enthemmt „Anna Blume“ rezitiert. Ein deutscher Spion, der mit der Kreissäge, an der Schwitters in einem norwegischen Flüchtlingslager arbeitet, vor dessen Augen Selbstmord begeht. „Hirn, das an die Wand spritzt!“, ruft Kverneland. „Wunderbares Comic-Material!“ Fiske lächelt. „Ich habe mir die Geschichten ausgesucht, die grafisch besonders interessant waren.“

Männer, Frauen, Perspektiven

Geradezu konventionell ist dagegen, wie der Franzose Xavier Coste das Leben Egon Schieles erzählt. Er porträtiert den Maler als zornigen jungen Mann, gelangweilt von den künstlerischen Konventionen, voller Verachtung für seine Lehrer an der Wiener Akademie der bildenden Künste, manipulativ, getrieben und eigenartig zerbrechlich. In düsteren Farben und scharfen Linien inszeniert er Schieles Aufstieg, seine Freundschaft mit Klimt, seine Exzesse und Affären, die Verurteilung wegen „Verbreitung unsittlicher Zeichnungen“, den Versuch einer bürgerlichen Ehe und seinen frühen Tod. Keine Szene, kein Bild ist überflüssig. Dem egozen­trischen, wehleidigen und doch faszinierenden Protagonisten setzt Coste dessen Frau Edith entgegen, die ihn immer wieder auf den Boden der Tatsachen holt, und anders wäre er auch kaum zu ertragen. Die bewusst subjektive Erzählung aus der Ich-Perspektive ergänzt Coste um ein Kapitel, in dem er Hintergründe erklärt und auf einander widersprechende Quellen verweist.
Lernen wir Schiele trotz Costes Bewunderung seiner Kunst als Unsympathen kennen, ist Picasso in der Biografie „Pablo“ von Julie Birmant und Clément Oubrerie ein liebenswerter, großäugiger Junge mit einem reizenden spanischen Akzent. Er stolpert in ein warm und träumerisch koloriertes Paris mit grünen Schatten und tiefblauen Nächten. Die Zeichnungen wirken wie rasch hingeworfen und erweisen sich auf den zweiten Blick als wunderbar detailverliebt. Erzählerin ist Fernande Olivier, die einzige unter Picassos zahlreichen Geliebten, die ihn schon kannte, als er noch nicht berühmt war, die er über sechzigmal gemalt hat und die später, Jahre nach ihrem Zerwürfnis, seine erste Biografin wurde. Als illegitimes Kind abwesender Eltern wächst Fernande bei ihrer Tante auf. Sie ist 17, als ein älterer Mann sie verführt. Fernandes Tante zwingt die Entehrte, ihn zu heiraten. Ihr Mann schlägt und vergewaltigt sie. Fernande flieht nach Paris und verdient ihren Lebensunterhalt, indem sie für Maler und Bildhauer posiert. Ihre Perspektive zeigt das prekäre Leben zwischen Freiheit und Ansehen der Frauen im Fin de Siècle – Frauen, die in klassischen Künstlerbiografien uninteressant werden, sobald der Künstler den Blick von ihnen abwendet.

Jeder Mensch ist ein Künstler, sagt Beuys

Er sei auf eine Biennale eingeladen, erzählt Pieterjan, mittelwichtig und mittelglücklich, einer alten Bekannten. Er verschweigt, dass es sich um die Biennale des flämischen Kaffs Beerpoele handelt. Er ist der einzige professionelle Künstler dort. Zwangsläufig wird er zum Ratgeber, dann zur Führungsfigur, als er die anderen Teilnehmer dazu animiert, einen riesigen Gartenzwerg aus Pappmaché zu errichten. „Die Amateure“ ist ein Buch über die schwer zu fassende Bedeutung von Kunst – und weit mehr als das. Brecht Evens illustriert die Psychodynamik einer Gruppe von Menschen, deren jeder auf seine Weise angezählt ist, im Begriff, sich aufzulösen. Evens verwendet für jede Figur eine eigene Farbe, und je weniger diese Figur in einem Moment „bei sich“ ist, desto durchscheinender und fragmentarischer malt er sie. Evens’ Bildideen sind berauschend in ihrer Vielschichtigkeit und geben dem aufmerksamen Betrachter nach und nach versteckte Bedeutungen preis.

Der Louvre ist zum Inbegriff ritualisierter Kunstbetrachtung geworden. 29 000 Besucher wälzen sich täglich durch die Säle, im Durchschnitt legt jeder von ihnen innerhalb von drei Stunden zwei Kilometer zurück, gezwungenermaßen oder interessiert aus den verschiedensten Gründen und mit zunehmend leerem Blick. Bei David Prudhomme werden die ausgestellten Stücke scheinbar Hintergrund und Nebensache. Er zeichnet die Besucher. Liebende, Schlafende, sich vor der „Mona Lisa“ Drängende, das Smartphone in der hochgereckten Hand. Dabei gelingen ihm Momentaufnahmen, die eine tiefe Verbindung zwischen Betrachter und Kunstwerk zeigen, zwischen längst vergangenen Zeiten und der Gegenwart, oft, ohne dass die Abgebildeten es beabsichtigen oder ahnen.

Der französische Zeichner Étienne Davodeau realisierte mit seinem Freund, dem Winzer Richard Leroy, ein ungewöhnliches Projekt: Ein Jahr lang arbeitete Davodeau auf Leroys Weinberg. Im Gegenzug gab er Leroy Comics zu lesen, stellte ihm die Zeichner, die Leroy gefielen, persönlich vor, nahm ihn mit in seinen Verlag. Das vorliegende Buch müsste sich anfühlen wie eine Art „Sendung mit der Maus“, denn es ist überaus lehrreich, aber was dominiert, ist eine Hintergrundstrahlung der Begeisterung. Denn jeder der beiden Männer folgt seiner Berufung. Aus der spürbaren Freude der Protagonisten über Details, deren Existenz der Laie nicht ahnt und der Kompromisslosigkeit ihrer Leidenschaften entsteht Komik. Als Leroy und Davodeau mit einigen Verlagsmitarbeitern im Restaurant sitzen und sie den Winzer fragen: „Was trinken wir?“, wirft er einen kurzen Blick in die Weinkarte und sagt: „Wasser.“

Und umgekehrt?

Mitte des 20. Jahrhunderts galten Comics bürgerlich geprägten Erwachsenen noch als Angriff auf das Gute, Wahre und Schöne, und bildende Künstler wie Andy Warhol oder Roy Lichtenstein bedienten sich dieses Potenzials. Der Kunsthistoriker Carsten Ahrens spricht vom „provozierenden Schock der Trivialität“. Trivialität schockiert nicht mehr und Comics sind längst eine anerkannte Kunstform, deren Publikum sich mit dem der Galerien überschneidet. Comic-Verfilmungen sind massentauglich und familienfreundlich. In welcher Form und zu welchem Zweck die Sprache des Comics in der bildenden Kunst verwendet wird, war Thema der Ausstellung „Kaboom!“ in der Bremer Weserburg im Sommer. Auffällig ist, wie häufig Anfang des zweiten Jahrtausends, in der westlichen Welt eine Zeit der Ernüchterung, Comic-Helden demontiert und dekonstruiert wurden. 2001 begann der Amerikaner William Pope.L, in einem Superman-Kostüm den Broadway entlang zu kriechen. Jeder Abschnitt der Performance „The Great White Way. 22 Meilen. 1 Straße“ dauerte, bis die Schmerzen in Knien und Ellbogen unerträglich wurden. Pope.L macht sich zu einem Negativ der Allmachtsfantasie Superman, zu einer „im Wortsinn erniedrigten Gestalt“, wie Kurator Ingo Clauß schreibt. Einen ähnlichen Eindruck hinterlässt Kristen Morgins „Popeye“ aus ungebranntem Ton, Farbe, Holz und Draht – gespenstisch schwebend, die Fäuste vorgereckt, angriffslustig und zugleich bittend. Er wirkt nicht stark, sondern zerbrechlich, nicht freundlich, sondern bedrohlich. Sie mache „vergängliche Dinge“, sagt Morgin über ihre Reproduktionen. Dieser Popeye steht nicht mehr auf, wenn er geschlagen wird. Er kann sterben.

Steffen Kverneland: Munch. Übersetzt von Nadja Gebhardt. avant, 270 Seiten, 34,95 Euro

Lars Fiske: Herr Merz. Übersetzt von Nadja Gebhardt. avant, 112 Seiten, 29,95 Euro

Xavier Coste: Egon Schiele – Ein exzessives Leben. Übersetzt von Carolin Müller. Knesebeck, 72 Seiten, 19,95 Euro

Julie Birmant, Clément Oubrerie: Pablo 1 – Max Jacob. Übersetzt von Claudia Sandberg Reprodukt, 84 Seiten, 20 Euro

Étienne Davodeau: Die Ignoranten. Übersetzt von Tanja Krämling. Egmont Graphic Novel, 272 Seiten, 29,99 Euro

David Prudhomme: Einmal durch den Louvre. Übersetzt von Ulrich Pröfrock. Reprodukt, 80 Seiten, 20 Euro

Brecht Evens: Die Amateure. Übersetzt von Andrea Kluitmann. Reprodukt, 224 Seiten, 34 Euro

Diverse: Kaboom! Comic in der Kunst. Kehrer, 240 Seiten, 29,90 Euro

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