Soundcheck auf der anarchischen Insel
Mythos Berlin
Seit den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts blühte die punkige Subkultur auf der demokratischen Insel Westberlin und auch in der verlorenen Mitte nach dem Mauerfall fand die politische Popkultur ihre Nischen. Eine literarische Spurensuche, die den Mythos Berlin erkundet. Von Michael Pöppl
Als im Sommer der erste Roman des Dichters Gerhard Falkner erschien, ging ein einhelliges Raunen quer durch den Blätterdschungel. Die Feuilletons lobten Apollokalypse überschwänglich, von FAZ(„verspielt, humorvoll und sprachgewandt“) bis zur taz („eine Hommage an eine untergegangene Welt“). Der „große Berlin-Roman“ schaffte es sogar auf die Longlist des deutschen Buchpreises. Das Lob kommt zu Recht. Die Poesie des 65-Jährigen prägt die Sprache in jedem Absatz. Jene 50er- und 60er-Jahre, die Autor und seine Protagonisten prägen, beschreibt Falkner so: „Saba-, Grundig- und Loewe-Opta-Radios bohrten ihr magisches Auge tief ins Herz des nächtlichen Kinderzimmers. […] Der deutsche Schlager war gedämpft von der Schwelle der Zimmerlautstärke und drang nur so schwach ins Freie, dass die Stille fast noch mächtiger sich dem angestrengten Ohr entgegenwarf.
Das endliche Platzen der Nachkriegsstille durch Rock’n’Roll Studentenproteste der 60er-Jahre ist Voraussetzung des subkulturellen Westberlins der 80er, das Falkner beschreibt. „Kreuzberg kochte in diesen Tagen ein Süppchen, von dem sich heute weder der Kessel noch auch nur Spuren des Gebräus wiederfinden“, räsoniert Ich-Erzähler Georg Autenrieth. Der Held Falkners ist ein provinzflüchtiger Bohemien, Wanderer zwischen Ost und West, halb Faust, halb Mephisto, untergetauchter RAF-Sympathisant oder doch Stasi-IM?
Falkners komplexe Liebeserklärung übergescheitelte Dandys, genial-durchgeknallte Künstler und nervige Punks ist nicht das einzige Buch, das in den vergangenen Monaten zum Mythos erschienen ist. Westberlin, jene anarchische Insel, war von Restdeutschland aus schwer zu erreichen. Zuerst war der Transit durch die DDR zu überwinden, wie Volker Hauptvogel in seinem amüsanten Roman Fleischers Blues erzählt: „Zäh und erbarmungslos zogen sich auch die letzten Kilometer bis zum Grenzübergang Dreilinden, der in gleißendes Flutlicht getaucht war. Die Unwirklichkeit der Reise hielt an. Hundestreifen patrouillierten zwischen den Autoschlangen. Misstrauische stumpfe Blicke durchröntgten ihr Auto. Schweigend wurden die Pässe wieder ausgehändigt.“ Das endliche Erreichen der Westberliner Avus verspricht Freiheit. Fleischer, Ende der 70er-Jahre der norddeutschen Kleinstadt entkommen, jobbt tagsüber als gut bezahlter Drucker mit Berlin-Zulage und trinkt sich nachts durch die Szenekneipen zwischen Oranien-und Potsdamer Straße.
Musik spielt die zweite Hauptrolle in Hauptvogels Roman, er selbst war 1978 Mitglied der Punkband MDK– Mekanik Destrüktiw Komandöh. Das Phänomen Punk, aus London kommend, erreicht Fleischer in Form eines Plattenpakets, das alles verändert: „Nach erstem, verheißungsvollen Knistern und Knacken schoss die Energie der Vinylscheibe durch die elektrischen Leitungen. Von dort direkt ins Hirn. Zermalmte die Wirbelsäule zu einem Haufen Staub, aus dem man wie Phoenix aus der Asche geläutert wieder aufstieg. Raum und Zeit wurden aufgehoben.“ Punk verbannt das spießige Hippietum, das Fleischer und seinen Kumpel Ede nervt, das Outfit verändert sich ebenso wie die politische Einstellung, von langen Haaren und Latzhosen zu Lederjacke, Nietengürtel und Stachelfrisur.
Ähnliches berichtet Gerrit Meijer, den der Dilettantismus der Punkbands fasziniert, in seiner Autobiografie Berlin, Punk, PVC: „Am obskursten erscheint mir das Konzept der Ramones. Zwanzig-Minuten-Auftritte, Zwei-Minuten-Songs, keine Soli. Keine Soli entsprechen auch meinem handwerklichen Können. […] Die Militanz und Energie, die da rüberkommt, wirkt geradezu berauschend. Man kann gar nicht genug davon bekommen, nach all dem Gejammer und Gesäusel, das wir die letzten Jahre über ertragen mussten.“ Meijer und seine Band PVC gelten als Urväter der Berliner Punkszene, in seinem Buch schöpft er aus einem riesigen Archiv an Geschichten und Anekdoten. Größen wie The Vibrators, Iggy Pop oder Dead Kennedys kommen vor, der legendäre Dschungel und das abgefuckte SO36, und Meijer moniert, wie der Punk schon zu Beginn der 80er-Jahre zur Pose verkommt. Am Ende des Jahrzehnts heißt es dann: „Punk’s not dead. It just smells funny.“
PHASE ZWEI DER BERLINER FREIHEIT
Gekifft, gekokst, gesoffen und gevögelt wird übrigens sehr viel, in all den Berlinstorys. Bei Falkner treibt sein Held es im Auto vor dem Kino International zu „Twist in my sobriety“. Der emotionslose Sex wird zur Metapher für die verlorene Mitte nach dem Mauerfall: „Wenn man in Berlin auf dem Alexanderplatz ankommt, ist man entweder enttäuscht oder verstimmt, keinen Platz vorzufinden. Der Ort kommt einem vor wie eine Idee, die sich in Luft aufgelöst hat. Eine Idee, die ein Loch hinterlassen hat zwischen dem ehemaligen Inter-Hotel und dem Fernsehturm. Ein Loch, das von einem unablässigen Verkehrsfluss umspült wird.“
Auch die Hausbesetzungen der 80er-Jahre spielen eine Rolle in den Berlingeschichten. In die Lücke, die der Sozialismus in Ostberlin hinterlässt, stößt dann die zweite Generationder Hausbesetzer. In "Wir waren die neue Zeit" erzählt Andreas Baum von jener Zeit, als die Wendekinder die Gelegenheiten wahrnahmen, die ihnen diese zweite Phase der Berliner Freiheit bot. Die eingebrochenen Hausbesetzer gehen „durch Räume, die aussahen, als seien sie gerade erst verlassen worden. An den Türen standen die Namen von Menschen, die jetzt an anderen Orten wohnten und die in ihren Träumen vielleicht noch hier waren, in ihrem alten Zuhause.“ Baums gelungener Roman lässt den „Spirit“ der kurzen Nachwendezeit, in der alles ging, noch einmal aufleben. Die Abwesenheit der Staatsmacht bringt ungeheure Energien hervor, alternative Wohnprojekte und Künstlerkollektive wie das Tacheles nutzen den Leerstand. Dutzende illegale Clubs und Kneipen entstehen. Die hoffnungsvollen Ideen ersticken am Ende, wie schon bei der Generation zuvor, in Diskussionen über Abwaschpläne, Wurst im Kühlschrank und Political Correctness. Am Ende der Geschichte stehen die Räumungen, von der Mainzer Straße im Jahr 1990 bis zum zwangsweisen Auszug des letzten Tacheles-Besetzers Stefan Schilling im Herbst 2012. Dessen wehmütig stimmende Tacheles-Sammlung mit Fotos aus über 20 Jahren und Interviews der Beteiligten ist soeben bei der Edition Braus erschienen.
Der Artikel ist im aktuellen BÜCHERmagazin, Ausgabe 1.2017, erschienen.
GERHARD FALKNER: Apollokalypse, Berlin Verlag, 432 Seiten, 22 Euro, als E-Book erhältlich
VOLKER HAUPTVOGEL: Fleischers Blues, Martin Schmitz Verlag, 240 Seiten, 14,80 Euro
GERRIT MEIJER: Berlin, Punk, PVC –Die unzensierte Geschichte, Verlag Neues Leben, 256 Seiten, 19,99 Euro, als E-Book erhältlich
ANDREAS BAUM: Wir waren die neue Zeit, Rowohlt, 288 Seiten, 19,95 Euro, als E-Book erhältlich
STEFAN SCHILLING: Tacheles – Die Geschichte des Kunsthauses in Fotografien, Edition Braus, 144 Seiten, 24,95 Euro
Michael Pöppl, Autor von „Der springende Punkt ist der Ball“ (Aufbau), schreibt als freier Journalist u. a. für „Zitty Berlin“, „Der Tagesspiegel“ und die „taz“