Über die Macht der Repräsentation
Warum wir diverse Stimmen brauchen
Ich habe viele Lieblingsworte. Eines davon ist Sichtbarkeit. Andere sind: Repräsentation. Diversität. Vielfältigkeit. Für diesen Text habe ich mich deshalb mal auf die Suche begeben: Wie divers ist unsere Literatur eigentlich? Und wie vielfältig sind die Bücher, die gerade veröffentlicht werden?
VON LINUS GIESE
Wenn ich heutzutage eine Buchhandlung betrete, finde ich in den Büchern, durch die ich dort blättere, nur selten Menschen wie mich. Ich bin ein trans Mann, aber in der Literatur komme ich so gut wie nicht vor – weder als Haupt- noch als Nebenfigur. Kaum ein Buch, das ich aufschlage, hat schwule oder lesbische Figuren. Oder Figuren, die bisexuell sind. Es gibt kaum Bücher, in denen nicht-binäre Menschen vorkommen – oder asexuelle Menschen oder Menschen, die intergeschlechtlich sind. All diese Menschen gibt es zwar, sie sind Teil unserer gesellschaftlichen Realität – aber in der Literatur spielen sie nur am äußersten Rande eine Rolle.
Die meisten Bücher erzählen die Geschichten einer heteronormativen Gesellschaft, also einer Gesellschaft, in der davon ausgegangen wird, dass alle Menschen heterosexuell und cisgeschlechtlich sind. In der englischsprachigen Literatur sind wir da schon deutlich weiter: Es gibt mittlerweile zahlreiche Memoiren, in denen trans Männer und Frauen ihre Lebensgeschichten erzählen: Redefining Realness von Janet Mock, Whipping Girl von Julia Serano, The Story of How I Became a Man von Chaz Bono oder auch das Buch von Caitlyn Jenner, das unter dem Titel The Story of my Life erschien.
Autobiografische Literatur
Bei deutschsprachigen Verlagen sieht das leider noch anders aus. Eine schöne Ausnahme ist das Buch von Jayrôme Robinet, das unter dem Titel Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund in diesem Frühjahr im Hanser Verlag erschien. Jayrôme Robinet wurde 1977 in Frankreich geboren – er ist Lyriker, Spoken-Word-Künstler und Übersetzer. Er erhielt bereits zahlreiche Preise und Stipendien, promoviert und unterrichtet an der Alice Salomon Hochschule und lebt in Berlin. „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“ ist seine Autobiografie – Jayrôme Robinet ist ein trans Mann. Er ist also ein Mann, dem bei der Geburt fälschlicherweise das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde – seine Eltern gaben ihm damals einen weiblichen Namen (dieser alte, abgelegte Name wird auch als Deadname bezeichnet), doch heute lebt er als Mann und unter dem Namen Jayrôme. Obwohl ihm relativ früh klar war, dass er eigentlich ein Junge ist, konnte er diesen Wunsch nie wirklich artikulieren. Als junger Mann zieht er von Frankreich nach Berlin und schafft es dort – befreit von der Nähe zu seiner Familie und der Last fremder Vorstellungen –, seinen Weg als trans Mann zu gehen. Er beginnt damit, Testosteron zu nehmen und erlebt eine zweite Pubertät. Er bekommt einen dunklen Bart – und wird auf der Straße plötzlich auf Arabisch angesprochen. Von einem Moment auf den anderen erlebt er im Alltag ganz neue und unerwartete Schwierigkeiten: ob auf der Toilette, in der Umkleide oder bei der Passkontrolle, er verändert sich nicht nur selbst, sondern es verändert sich vor allem auch das Verhalten seiner Umwelt ihm gegenüber. Jayrôme Robinet hat ein – bei all der ernsten Thematik – sehr leichtes, sehr zugängliches, sehr unterhaltsames Buch geschrieben. Er stellt viele Fragen: Wie werde ich als Mann behandelt? Wie werde ich als Frau behandelt? Was macht überhaupt eine Frau zu einer Frau und einen Mann zu einem Mann? Und wie reagieren Menschen auf mich, wenn sich nicht nur das Aussehen verändert, sondern scheinbar auch die Herkunft? Er schreibt auch über seine Familie und seine Freunde, die er mit seinem Coming-Out als Mann alle überrascht hat und manche von ihnen auch überfordert. Genauso wie über die ganzen bürokratischen Hürden, die mit einer Transition verbunden sind, und fasst das in einem Satz treffend zusammen: „Eigentlich leide ich nicht an geschlechtlicher, sondern an bürokratischer Dysphorie.“
Über diese bürokratische Dysphorie schreibt auch die Autorin Felicia Ewert in ihrem Buch Trans. Frau. Sein, das vergangenes Jahr in der edition assemblage erschienen ist. An einer Stelle im Buch schreibt sie: „Eine trans Frau ist kein Mann, der eine Frau spielt. Eine trans Frau ist eine Frau, die es ertragen muss(te), einen Mann zu spielen.“ Felicia Ewert ist eine der sichtbarsten Transfrauen in Deutschland und erlebt in den sozialen Medien sehr viel Hass und Diskriminierung. In ihrem Buch, mit dem sehr passenden Untertitel „Aspekte geschlechtlicher Marginalisierung“, dekonstruiert sie die Kultur der Geschlechter und Geschlechterrollen. Was ist eigentlich Cissexismus und wie oft denken wir in unserem Alltag in stereotypen Schubladen und Geschlechtern? Das fängt oft schon bei der Geburt an, bei der die erste und wichtigste Frage ist, welches Geschlecht das Kind eigentlich hat. Felicia Ewert stellt aber nicht nur festgefahrene Geschlechtsvorstellungen infrage, sondern schreibt auch über rechtliche Aspekte, gibt Formulierungstipps und erzählt von ihrem Lebensweg – und das tut sie auf kluge, scharfsinnige und humorvolle Art und Weise. „Trans. Frau. Sein“ sollte fester Bestandteil in Schulen und Bildungseinrichtungen werden. Davon träume ich zumindest, aber bis es so weit ist, ist es wohl noch ein langer Weg.
Innere und äußere Konflikte
Auch die Graphic Novel Nennt mich Nathan hat das Potenzial dazu, das Thema „Trans“ den Menschen näher zu bringen, nicht nur Schüler:innen im Unterricht, sondern auch Familienangehörigen, Partner:innen, Kolleg:innen oder Freund:innen. Die Graphic Novel ist in gemeinsamer Zusammenarbeit von Catherine Castro, Journalistin bei Marie Claire, und Quentin Zuttion, Autor und Zeichner, entstanden. „Nennt mich Nathan“ basiert auf Geschichten aus dem Leben eines Teenagers – das heißt: Nathan gibt es wirklich, er hat sich dazu bereit erklärt, in dieser Graphic Novel seine Geschichte erzählen zu lassen. Auch Nathan wurde bei der Geburt das falsche, also das weibliche, Geschlecht zugewiesen. Von sei- nen Eltern bekam er noch einen anderen Namen, den Namen Nathan gab er sich irgendwann selbst. Er wächst behütet auf, merkt aber irgendwann, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Er ist anders als die anderen Mädchen, er hasst seine Brüste, fühlt sich nicht wohl in seinem Körper, möchte einen männlichen Namen. Die LeserInnen begleiten Nathan durch eine schmerz- hafte Pubertät und auf der Suche nach der eigenen Identität. An einer Stelle sagt Nathan: „Ich bin nicht normal? Was ist mein Problem? Meine Eltern nennen es eine Adoleszenzkrise. Sie sind ja lieb, aber das hilft mir nicht. Was habe ich, verdammt?“ Genau dieser Frage geht die Graphic Novel nach. Kritisch anmerken muss man allerdings, dass das Buch zwar von vielen inneren Konflikten erzählt, aber äußere Konflikte kaum vorkommen: Nathan ist beliebt, normschön, hat ein unterstützendes Umfeld, bekommt Hormone, ist bei den Mädchen begehrt und erlebt keinerlei Anfeindungen, Ausgrenzungen oder Diskriminierungen. So kann das in Ausnahmefällen sein, aber die Realität und die Kämpfe vieler junger Transmenschen sind deutlich komplexer, schwieriger und oft auch einsamer.
Während die Bücher von Felicia Ewert und Jayrôme Robinet aus einer eigenen Betroffenheit heraus geschrieben sind, beide sind selbst trans, ist „Nennt mich Nathan“ von zwei cis Menschen geschrieben und gezeichnet worden. Bücher aus der sogenannten Own-Voice-Perspektive sind vor allem für marginalisierte Menschen wichtig. Es gibt gerade nur einen einzigen Comic in deutscher Übersetzung, ich hätte mir gewünscht, er wäre von einem trans Mann erzählt worden und nicht über einen trans Mann. Es geht dabei übrigens nicht um die Frage, ob cis Menschen die Geschichten von trans Menschen erzählen dürfen. Ich bin nicht in der Position, etwas verbieten zu können, aber ich glaube, es geht sehr viel verloren, wenn man über marginalisierte Menschen schreibt und diese Menschen nicht selbst ihre Geschichten erzählen lässt.
Mehr Diversität im Jugendbuch
Erfreulich ist die Beobachtung, dass es im Segment Jugendbuch – vor allem im englischsprachigen Raum – viel mehr Diversität gibt als noch vor ein paar Jahren. Zwei positive Beispiele sind Ramona Blue von Julie Murphy und Ein Happy End ist erst der Anfang von Becky Albertalli. Das Schöne an beiden Jugendbüchern ist, wie beiläufig queer und divers die Figuren sind. Eine der Figuren hat lesbische Mütter, eine andere nutzt genderneutrale Pronomen. Und Leah, die Hauptfigur von Becky Albertalli, sagt: „Diese ganz entspannte Verwendung eines genderneutralen Pronomens. Betrifft mich zwar nicht direkt, aber fühlt sich trotzdem an wie eine Umarmung.“ Die Charaktere stellen ihre Identität und Sexualität infrage, experimentieren, sind mutig und sagen Sätze wie: „Ich wünschte, ich hätte Antworten auf die Fragen. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass ich lesbisch bin oder hetero oder bi oder homoromantisch demisexuell.“
Diese Art von Büchern habe ich mir früher gewünscht: Ich wuchs ohne Bücher auf, in denen ich mich wiedererkannte. Ich wünsche Jugendlichen und Erwachsenen noch viel mehr solcher Bücher. Oder wie Ramona – die Hauptfigur von Julie Murphy – es an einer Stelle sagt: „Ich kapiere diese Liebeskomödien einfach nicht. Nicht, dass ich nicht an Liebesgeschichten oder Romantik glaube, aber kann nicht einmal – nur ein einziges Mal! – ein Mädchen einem anderen Mädchen die Sinne rauben? Oder warum kann der dicke beste Freund nicht den Typen kriegen? Warum können nicht mal zwei Männer in Unterwäsche eine Kissenschlacht machen? Jedes Mal ist es wieder derselbe alte Scheiß.“ Ja, jedes Mal ist es wieder derselbe alte Scheiß und umso mehr freue ich mich über Bücher, die diesen alten Scheiß infrage stellen. Davon gibt es noch viel zu wenige, aber ich habe den Eindruck, es werden immer mehr: Ocean Vuong schreibt in Auf Erden sind wir kurz grandios großartig über schwulen Sex und Akwaeke Emezi feierte als nicht-binärer trans Mensch große Erfolge mit ihrem Roman Süßwasser.
Ich glaube an die Kraft der Literatur und an Sichtbarkeit. Es freut mich, dass es gerade neue, junge und diverse literarische Stimmen gibt und ich glaube, dass es die Aufgabe aller Kritiker:innen, Leser:innen und Buchhändler:innen ist, diesen Stimmen zuzuhören, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken und sie weiterzuempfehlen. Das ist meine kleine Utopie, das wünsche ich mir.