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Interview: Christian Bärmann (bär) | Fotos: Gaby Gerster/Diogenes

Dennis Lehane

Durch den Hintereingang

Seine Romane sind erfolgreich und in Hollywood sehr beliebt. Und doch hat Dennis Lehane die Nähe zu seiner Herkunft nie verloren. Im BÜCHER-Interview spricht der Amerikaner über Erzähltraditionen, Gangstergeschichten und den Einfluss von Bruce Springsteen.

Dennis Lehane ist Bostoner durch und durch. Ob „Mystic River“, „Gone Baby Gone“ oder sein neuestes Werk, „In der Nacht“: Seine Heimatstadt spielt in fast all seinen Werken eine tragende Rolle. „Boston“, so der Autor, „ist ein extrem einzigartiger Ort, voller Charakter und Energie. Man braucht nur die Straße überqueren, um auf ein neues gesellschaftliches Thema zu stoßen – das macht die Stadt auf dramatische Art und Weise ergiebig.“ Lehane schwärmt beim BÜCHER-Interview mit einer solchen Leidenschaft von Boston, dass die Frage erlaubt sein muss:

Dennis, was um alles in der Welt hat Sie bewogen, nach Los Angeles zu ziehen?

(lacht) Nun, meine Frau wollte mal erleben, wie es ist, das ganze Jahr über in einem angenehmen Klima zu verbringen. Dazu kommt, dass ich hier viel zu tun habe. Außerdem wohnen wir nicht in L.A., sondern in Santa Monica – das macht alles etwas erträglicher.

Mit Ihrem aktuellen Roman „In der Nacht“ haben Sie sich den lang gehegten Traum erfüllt, eine Gangstergeschichte zu schreiben. Warum haben Sie damit so lange gewartet?

Ich schreibe Bücher nicht aus einem Bewusstsein heraus – es sind vielmehr Ideen, die erst an die Oberfläche kommen und dann von mir Besitz ergreifen müssen. Ich brauche diese besondere Leidenschaft zum Schreiben und habe gewartet, bis dieses Gefühl eine Gangstergeschichte vereinnahmt hat. In meinem Buch „Im Aufruhr jener Tage“ gibt es diesen kleinen Jungen Joe, der mir beim Schreiben als „mein“ Gangster aufgefallen war. Danach habe ich erst einen zeitgenössischen Roman geschrieben – und war dann bereit für meine Gangstergeschichte. Eine Geschichte, die sich nicht um Whiskey, sondern um Rum drehen sollte, der während der Prohibition aus Kuba und Jamaika in die USA kam. Darüber hatte noch niemand so wirklich geschrieben.

Auch „In der Nacht“ wird – nach „Mystic River“, „Gone Baby Gone“ und „Shutter Island“ – nun verfilmt. Was schätzen Filmemacher an Ihren Romanen?

Ich weiß es wirklich nicht. Vermutlich schreibe ich Figuren, die richtig gute Schauspieler gerne darstellen. Aber das ist auch das Einzige, was ich für mich in Anspruch nehmen kann, denn meine Handlungen sind nun nicht besonders originell.

Ist es ein seltsames Gefühl, den eigenen Roman auf der Leinwand zu sehen?

Ja, das ist vollkommen bizarr. Ich konnte mir jeden „meiner“ Filme auch nur einmal angucken.

Warum?

Wenn ich ein Buch schreibe, läuft bei mir im Kopf kein Film ab. Wenn ich schreibe, sehe ich ein Leben vor mir und schaffe eine Welt. Dieses Buch dann 1:1 zu verfilmen, würde einen 19-stündigen Film ergeben. Die Aussage, dass Autoren filmisch schreiben würden, ist daher vollkommen idiotisch – denn Bücher kamen zuerst. Für das Kino wird in Erzählform gefilmt, es sind nicht die Autoren, die filmisch schreiben. Ich weiß, das klingt wie eine Differenzierung ohne Unterschied, ist aber wirklich wichtig. Wenn ich meine Romane auf der Leinwand sehe, ist das ein Film – und nicht das, was ich beim Schreiben im Kopf hatte. Deswegen finde ich es seltsam, eine Zwei-Stunden-Fassung meines 19-stündigen Lebens zu sehen.

Waren Sie skeptisch, als Hollywood zum ersten Mal bei Ihnen anklopfte?

Und wie. Ich wurde schon vor „Mystic River“ mehrfach angesprochen. Aber dann kam Clint Eastwood und gab sich große Mühe, mich zu überzeugen. Er sagte mir, dass es nur um ihn, den Drehbuchschreiber und mich ginge – nicht um ein Filmstudio, Zielgruppen oder Dutzende von Leuten, die sich einmischen würden. Das hat mir gereicht. Wenn man ein Studio statt um 200 Millionen „nur“ um 42 Millionen Dollar bittet, dann noch Clint Eastwood heißt, die richtigen Stars bekommt und damit sogar etwas Umsatz macht, sollte sich das Studio auch wirklich heraushalten. So kam es dann tatsächlich – genauso wie später bei Ben Affleck (Regie bei „Gone Baby Gone“) und Martin Scorsese („Shutter Island“).

Und vermutlich auch bei Leonardo DiCaprio, der die Filmrechte an „In der Nacht“ gekauft hat, Regie wird Ben Affleck führen. Gangsterfilme haben eine lange Tradition – aber was macht eine gute Gangster-Geschichte aus?

Eine gute Gangster-Geschichte besteht zunächst aus einer Tragödie. Denn Gangster sind Könige – man braucht sich dafür nur in den königlichen Haushalten vor knapp 500 Jahren umschauen. Und was ist „Macbeth“, wenn nicht eine Gangster-Geschichte? Zum anderen sind Gangster so amerikanisch wie der Jazz. Es geht um Kapitalismus, um die Erfüllung des amerikanischen Traums – allerdings auf der Überholspur. Gangster sind der amerikanische Traum auf Crack (lacht). Am Anfang ist der Gangster noch allein, bricht das Gesetz und lässt sich nicht vom System vereinnahmen – doch am Ende ist er der Konzern. Wie im Kapitalismus, wo der Unternehmer zum Industriemagnaten aufsteigt.

Haben Sie sich vor dem Schreiben auch von Gangsterfilmen inspirieren lassen?

Selbstverständlich. Man kann nicht über Gangster schreiben, ohne sich mit „Der Pate“ beschäftigt zu haben, das ist unmöglich, der Film ist der Fels in der Brandung von allem. Ich bin mir aber nicht sicher, ob „Der Pate“ nun ein echter Einfluss war oder nur etwas, das ich einfach nicht ignorieren konnte. Und, klar, ich habe mir natürlich die alten James-Cagney-Filme aus den 1930er-Jahren angeguckt. Sehr geholfen hat mir auch Michael Manns Film noir „Thieves“ (dt. „Der Einzelgänger“) aus den 1980ern, in dem es um einen Mann geht, der versucht, Unternehmer zu sein, ohne von einem Konzern zerstört zu werden.

Sie vermuten, dass gute Schauspieler Ihre Figuren reizvoll finden. Wohl auch, weil die meisten Typen und Dialoge in Ihren Romanen ungemein authentisch wirken. Wurde Ihnen das Geschichtenerzählen in die Wiege gelegt oder sind Sie vor allem ein guter Beobachter?

Das Erzählen von Geschichten liegt mir definitiv im Blut. Die Mitglieder meiner Familie waren keine belesenen Menschen, aber sie haben viel zusammengesessen und Geschichten erzählt. Meine Eltern kommen aus Irland, ein Land mit einer großen Erzähltradition, wo sich Menschen in Pubs die ganze Nacht Geschichten erzählt haben. Ich habe eine sehr große Familie, allesamt irische Einwanderer nach Boston, und statt in Pubs wurde sich dann jeden Freitag und Samstag in Küchen und Wohnzimmern getroffen, um Geschichten aus der alten Welt zu erzählen.

Klingt toll.

Nicht, wenn sie ein Kind sind. Ich dachte mir immer: „Nein, nicht schon wieder“ (lacht). Aber so war es eben. Und was die Dialoge angeht: Wären Sie wie ich in Dorchester (ein Arbeitervorort von Boston) und nahe Southie (South Boston) aufgewachsen, hätten Sie auch ein großartiges Gespür für die Sprache. Die Menschen dort haben eine ganz besondere, einmalige und sehr lebendige Art zu reden – schon als Junge war ich von diesem wunderbaren Repertoire umgeben.

Hat Sie das Arbeiterumfeld Ihrer Jugend als Schriftsteller beeinflusst?

Auf jeden Fall. Würde man aus meinen Büchern die Essenz herausziehen, befassen sie sich auf der ersten Ebene mit den Kämpfen zwischen den Besitzlosen und den Wohlhabenden – meistens aus der Perspektive, dass es sich dabei um ein abgekartetes Spiel handelt.

Hat Ihr Vater diesen Kampf geführt?

Ja, mein Vater war ein Mann der Arbeiterschicht und hatte fünf Kinder zu ernähren. Er hat mehrere große Rezessionen durchlebt. Das waren harte Zeiten – aber nicht durchgehend, denn er verkörperte den amerikanischen Traum: Mein Vater ist mit einer ordentlichen Pension in Rente gegangen, konnte kaum glauben, sein eigenes Haus zu besitzen, und am Ende hat er sich sogar in einem zweiten Haus in Florida zur Ruhe gesetzt. Aber es war schon ein ständiger Kampf – und seine Bürde, mit fünf Kindern von der Hand in den Mund zu leben, werde ich nie vergessen.

Hilft Ihnen dieser Hintergrund, heute angesichts Ihres Erfolgs nicht die Bodenhaftung zu verlieren?

Nun, man sagt, dass die Iren einem alles vergeben – außer Erfolg. Ich war immer von Menschen umgeben, die mein Erfolg kaum beeindruckt hat. Das hilft. Ich erinnere mich auch ständig daran, dass ich in der elterlichen Lotterie gewonnen habe: Ich wurde in die richtige Familie hineingeboren, im richtigen Land, zur richtigen Zeit. Ich weiß nicht, ob mich das bescheiden macht, aber es hält mich in der Tat auf dem Boden – denn nur weil ich jede Menge Glück gehabt habe, sitze ich hier heute mit meinem Erfolg. Und dieses Glück begann schon bei meiner Geburt. 

Sie haben mal gesagt, dass Sie von Bruce Springsteen enorm beeinflusst wurden. Weil er ebenfalls seine Herkunft nicht vergessen hat?

Springsteen war von Anfang an ein großer Einfluss, denn er schreibt über die Dinge, die mich am meisten berühren. Er schreibt über die Besitzlosen, das manipulierte System, den Kampf, um über die Runden zu kommen – und doch ist da immer diese Hoffnung, dieser Glaube. Bruce Springsteen hat sich das Bewusstsein bewahrt, wie es ist, der Sohn eines Mannes aus der Arbeiterschicht zu sein.

So wie Sie.

Ja, genau das sage ich auch immer. Ich gehöre nicht der Arbeiterschicht an. Ich muss heute nicht mit den Problemen kämpfen, denen sich mein Vater sein ganzes Leben ausgesetzt sah, aber das bedeutet nicht, dass es nicht Millionen andere Menschen gibt, denen es so geht wie meinem Vater. Und das ist der Filter, durch den ich so ziemlich alles sehe. Als meine Frau und ich zuerst miteinander ausgegangen sind, habe ich sie in ein sehr schönes Restaurant ausgeführt. Sie sagte, dass sie sich nicht sicher sei, ob sie sich dort wohlfühle. Daraufhin habe ich ihr geantwortet: „In dem Moment, in dem wir uns in einem solchen Ort wohlfühlen, sind wir tot.“ Ich kann mich natürlich so geben, als würde ich dorthin gehören, aber ich sollte mich immer wie das Kind fühlen, das sich durch die Hintertür reingemogelt hat.

Dennis Lehane: In der Nacht. Übersetzt von Sky Nonhoff. Diogenes, 592 Seiten, 22,90 Euro

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